Tigeraugen standhalten © ondrejprosicky / fotolia

Stärken und widersprüchliche Qualitäten ausbalancieren

Eine Meldung brachte mich kürzlich zum Schmunzeln: Die bekannte Biermarke Budweiser benennt sich angeblich um und nennt sich bis zum Ende des US-Walhkampfes „America“. Ganz schön patriotisch… Wahrscheinlich handelt es sich bei der Meldung um ein Fake, aber außerhalb des Denkbaren liegt die Vorstellung nicht, wenn man an die Stars-and-stripes-Meere denkt, die den Wahlkampf in den USA zur Zeit begleiten.

Warum erscheint uns dieses Zelebrieren von Stärken als „zuviel“?

Generell sind „die Amerikaner“ ja bekannt dafür, nicht nur ihren Patriotismus, sondern auch andere Werte und Tugenden richtiggehend zu zelebrieren. (Ich schreibe „die Amerikaner“ bewusst in Anführungszeichen, denn natürlich ist diese Aussage eine Verallgemeinerung und trifft nicht auf jede einzelne Person zu.) Für mein Gefühl kippt das leicht schon mal ins fast Groteske… Das wirft für mich die generelle Frage auf: Ist denn dieses Groteske, Übertriebene bereits eine andere, neue und negativere Qualität – oder gibt es von jedem Wert, jeder Stärke eine optimale Ausprägung, die nicht über- oder unterschritten werden sollte?

Es lohnt sich, über diese Frage nachzudenken. Patriotismus ist im Grunde ja vor allem eines: Loyalität zum eigenen Land. Und Loyalität ist eine Qualität, die für jeden Menschen positiv besetzt ist – über zeitliche und geografische Grenzen hinweg. Tatsächlich findet sich dieser Wert in einer Liste wieder, in der eine Forschergruppe um Prof. Seligman alle diejenigen Stärken zusammentrug, die sie als „Charakterstärken“ bezeichnet: Charakterstärken sind solche, die universell – also zu jeden Zeit und an jedem Ort – gültig sind und waren. Außerdem haben sie das gemeinsame Merkmal, dass wir andere Menschen, die solche Charakterstärken in deutlicher Ausprägung besitzen, neidlos bewundern und uns sogar von ihnen inspiriert fühlen, diese Stärke auch selbst mehr zu leben. 24 solcher Stärken identifizierten die Forscher, darunter Kreativität, Authentizität, Tapferkeit, Teamwork, Bindungsfähigkeit und eben beispielsweise auch die Loyalität. Für jede dieser Stärken gibt es einen Bereich der optimalen Ausprägung, in dem sie ideal wirken können. Ein „zuviel davon“ kann aber genauso ungünstig sein wie ein „zuwenig davon“! Wenn wir bei der Loyalität bleiben: Wer zuwenig davon besitzt, läuft Gefahr, sich zu nichts und niemanden bekennen zu wollen und seine Segel ohne Ziel zu setzen. Es ist eine Kunst, die eigenen Stärken zu erkennen – und ebenso ist es eine Kunst, die richtige Ausprägung dafür zu finden.

Positive Stärken können sich auch widersprechen

Nun gibt es – wenn wir den Begriff der Stärken weiter fassen und uns von den 24 beschriebenen Charakterstärken wieder etwas lösen – Stärken, Werte oder Tugenden, die zwar jede für sich positiv bewertet werden, die aber in Widerspruch zueinander stehen! Man denke an Ehrlichkeit und Höflichkeit: Sicherlich beides Tugenden, die zur gegebenen Zeit ebenso wünschenswert wie nützlich sind – in ein und derselben Situation können sie sich jedoch widersprechen. Und das passiert schon bei so banalen Dingen wie beim Gespräch mit dem Kollegen in der Mittagspause, der Sie nach Ihrer Meinung zu seiner letzten Präsentation fragt, die Sie leider ziemlich daneben fanden. Wie antworten, um ehrliche Rückmeldung zu geben ohne ihm dabei zu sehr vor den Karren zu fahren…? Schulz von Thun nennt solche widersprüchlichen Qualitäten „Schwestertugenden“ und erklärt ihre Zusammenhänge im Modell des „Werte- und Entwicklungsquadrats“, das ursprünglich auf den Philosophen N. Hartmann zurückgeht. Schulz von Thun rechnet es zu den wichtigsten Modellen für Coaching und Kommunikationstraining und sieht es als wichtiges Werkzeug, um persönliche Wertvorstellungen in Balance zu bringen und zu halten. Die Prämisse dieses Modell besagt, dass jede Tugend eine Schwestertugend besitzt, zu der sie in Spannung steht. Die Kunst besteht nun darin, die richtige Balance zwischen beiden zu finden – sonst „kippt“ die Tugend in eine Übertreibung ihrer selbst. Ehrlichkeit wird dann zur Schonungslosigkeit, Höflichkeit zur Lüge. (Mehr zum Werte- und Entwicklungsquadrat hier)

Wertearbeit an widersprüchlichen Qualitäten

Dieses Modell der nebeneinander bzw. gegenüber stehenden Paare von Tugenden passt gut zu einer Übung, die ich zur Wertearbeit in Trainings und Seminaren durchführe. Darin sammle ich gemeinsam mit den Teilnehmer/-innen Wortpaare, die widersprüchliche Qualitäten darstellen – analog der oben genannten „Schwestertugenden“. Beispiel dafür sind Egoismus – Selbstlosigkeit, Loyalität – Entscheidungsfreiheit etc. Danach benennt jede/-r Teilnehmer/-in für sich, wo er/sie sich auf dem Kontinuum zwischen beiden Qualitäten einordnet. Diese Übung gibt viele Denkanstöße: Wo wollen Sie Qualitäten stärker in eine der beiden Richtungen entwickeln? Welche Qualitäten besitzen Sie sowohl-als-auch? Können Sie beide Qualitäten stärken, ohne dass sie sich gegenseitig negativ beeinflussen? Denn mit vielfältigen widersprüchlichen Qualitäten – also wenn Sie bestimmte Qualitäten sowohl-als-auch besitzen – sind Sie am besten gewappnet für eine Welt, die vielfältige und widersprüchliche Anforderungen an Sie stellt. Die VUCA-Welt erfordert schnelle Anpassung und Reaktionsfähigkeit – je flexibler Sie Ihre Stärken darauf einstellen können, desto leichter wird es Ihnen fallen, damit zurechtzukommen.

Hinweis: Wenn Sie weitere Anstöße möchten, um Ihre Resilienz in der VUCA-Welt zu stärken, schauen Sie doch in den Terminen zu meinem nächsten offenen Resilienztraining.

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