Altern als Entwicklungs-Chance
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, warum Altern eine Entwicklungs-Chance ist und wie es für das persönliche Wachstum genutzt werden kann – im beruflichen Kontext oder generell für das eigene Leben.
Vor wenigen Jahren habe ich meinen 60. Geburtstag gefeiert – mit viel Freude und Freunden. Diese Zahl hat für mich und für viele meiner Bekannten, gerade für solche, die in verantwortungsvollen Positionen stehen und für die es bisher immer nur steil bergauf ging, einen signifikanten Einschnitt bedeutet. Es ist ein Alter, in dem viele Menschen beginnen, sich intensiv mit ihrer Zukunft auseinanderzusetzen, ihre Bedürfnisse und Wünsche neu zu bewerten und Pläne für die kommenden Jahre zu schmieden.
Fokus auf Übergänge und Neuausrichtung
Die meisten Führungskräfte um die sechzig stehen noch mitten im Berufsleben, spüren aber doch, dass sich etwas ändert und es Zeit wird für eine Neuorientierung. Den Vorruhestand planen oder die Stundenzahl verringern? Bis zum regulären Rentenalter oder darüber hinaus arbeiten? Wie schafft man sich jetzt ein altersgemäß passendes Arbeitsumfeld? In dieser Lebensphase geht es darum, sich auf die Zukunft auszurichten, die eigenen Vorstellungen für die nächste Lebensphase zu klären und auch an das berufliche „Danach“ zu denken. Egal, ob Ihr Unternehmen weiterhin ein fester Bestandteil Ihres Lebens bleibt oder nicht: Bedürfnisse und Wünsche verändern sich mit dem Altern, und es ist wichtig, diesen Veränderungen Raum zu geben.
Die Frage nach der eigenen Identität und den individuellen Bedürfnissen tritt in den Vordergrund. Deswegen ist es ein guter Moment, um zu hinterfragen, ob ihre Vorstellung vom Leben, so wie sie bisher war, noch zu Ihnen passt. Stellen Sie sich vor, Sie wollten schon immer einen Marathon laufen und jetzt befällt Sie die Sorge, dass es allmählich zu spät ist:
- Ist es das wirklich? Sehr oft haben wir Bilder vom „Alter“ im Kopf, die wir unhinterfragt übernehmen, anstatt realistisch auf unsere individuelle Situation zu blicken. Der Mensch kann zeitlebens neue Fähigkeiten entwickeln und trainieren – aktuelle Forschungsergebnisse belegen, dass viel mehr möglich ist, als wir bisher dachten.
- Warum genau wollen Sie einen Marathon laufen? Vielleicht geht es Ihnen darum, Ihre Grenzen zu überschreiten, oder gemeinsam etwas Großes zu erreichen… Welches Bedürfnis steht hinter Ihrem Wunsch? Gibt es die Möglichkeit, dieses Bedürfnis anders zu erfüllen?
Es gilt, das eigene Alter so zu gestalten, wie es den persönlichen Wünschen und Bedürfnissen entspricht – und nicht so, wie Sie vielleicht denken, dass es von Ihnen erwartet wird. Abels et al. (2008) betonen, dass wir in dieser Phase sicherer wissen, wer wir sind und wer wir nicht mehr oder noch nicht sind. Aber: Um sich in diesem Wissen zu entfalten, müssen wir durchaus manchmal anecken und mit der Vorstellung von „in diesem Alter macht man das doch nicht (mehr)“ brechen.
Alter: Eigene Bewertungen hinterfragen
Dem Alter wird oft ein gesellschaftliches Bild zugeschrieben, das mit bestimmten Erwartungen und Rollen einhergeht. Ganz automatisch übernehmen wir dieses Bild und verhalten uns entsprechend, entweder unbewusst oder aus der Überzeugung heraus, „das gehöre sich so“. Mit diesen Rollen und Gesellschaftsbildern zu brechen und das Altern individuell zu gestalten, erfordert zum einen, die eigenen Glaubenssätze zu erkennen und zu hinterfragen und zum anderen, den Mut und das Selbstbewusstsein aufzubringen, keinen inneren oder äußeren Erwartungen zu entsprechen. Die Zahl der Lebensjahre sagt wenig darüber aus, wie sich jemand fühlt oder welche Möglichkeiten noch vor ihr oder ihm liegen. Mir gefällt der Begriff des „doing age“, bei dem das empfundene Alter eine größere Rolle spielt als das chronologische Alter. Es ist ein Konzept aus der Sozial- und Kulturwissenschaft, das darauf abzielt, das Alter nicht nur als biologisches Phänomen zu verstehen, sondern auch als eine soziale und kulturelle Konstruktion. Wichtiger als die Zahl in Ihrem Ausweis ist also, wie wir uns kleiden, welche Aktivitäten wir für uns suchen, wie und mit wem wir sozial interagieren. Und auch, wie wir unser eigenes Alter wahrnehmen.
Deshalb möchten immer mehr Menschen, gerade solche, die ihr ganzes Leben lang Gestaltungseinfluss hatten, ihre ganz persönlichen Vorstellungen vom Alter leben und nicht mehr dem Klischee einer Generation entsprechen, die ihre Aufgaben in der Gesellschaft verliert und von der erwartet wird, dass sie sich aus dem aktiven Leben zurückzieht. Und damit haben sie recht! Denn meist ist es gar nicht das Alter selbst, das uns Sorgen bereitet. Vielmehr sind es die eigenen Vorstellungen davon, was auf uns zukommt und was sich alles verändern wird, wenn wir älter werden – dabei können und sollten wir diese Glaubenssätze in Bezug auf „das Alter“ auch hinterfragen und überschreiben.
Eine Auszeit vom Alltag zur Reflexion
Aber wie genau soll die neue Lebensphase aussehen? Es gibt eben noch nicht viele Rollenmodelle dafür, wie ein „neues Altern“ gelebt werden kann. Und dennoch, oder gerade deswegen, ist es sinnvoll, sich sehr bewusst damit auseinanderzusetzen, welche Ziele und Wünsche Sie für die nächsten Jahrzehnte haben. Diese neuen Aufgaben und Herausforderungen lassen sich am besten in einer Auszeit vom Alltag reflektieren. Eine bewusste Pause ermöglicht es, Abstand zu gewinnen, neue Perspektiven zu entwickeln und klare Ziele für die Zukunft zu setzen, um die kommenden Jahre aktiv und erfüllend gestalten zu können. Schließlich geht es da um eine Zeitspanne, die gut und gerne weitere 30 Jahre umfassen kann!
Neue Sicht auf „das Alter“
Das Alter heute ist etwas völlig anderes als noch vor 60, 70 Jahren. Es ist zunehmend eine Lebensphase unter anderen, die ihre Sonnen- und Schattenseiten hat. Genauso, wie es in der Kindheit Vor- und Nachteile gibt, Schönes und Aspekte, mit denen man zu kämpfen hat, bringt auch das späte Erwachsenenalter Dinge mit sich, auf die man sich freuen kann und andere, auf die man lieber verzichten möchte. Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an – dieser bekannte Schlager von Udo Jürgens bringt es auf den Punkt: Das Alter bietet vielfältige Möglichkeiten für Wachstum, Entwicklung und Erfüllung. Hans-Werner Wahl (2017) hat in seiner „Neuen Psychologie des Alterns“ neun Prinzipien formuliert, die einen differenzierten Blick auf das Altern ermöglichen. Zwei davon scheinen mir besonders bemerkenswert:
Menschliche Entwicklung ist bis in höchste Alter hinein veränderbar (Plastizität)! Und zwar sowohl auf der neuronalen als auch auf der Verhaltensebene. Das bedeutet: In jedem Alter können wir lernen, in jedem Alter können wir uns noch verändern, wenn wir das wollen. Diese Aussage gibt der heutige Forschungsstand eindeutig her. Beispielsweise kann unser Gehirn in jedem Alter neue synaptische Verbindungen ausbilden. Oder bestimmte Hirnarealen können die Funktion von anderen übernehmen, wenn Teile des Gehirns beispielsweise durch einen Unfall oder einen Schlaganfall beschädigt werden.
Menschliche Entwicklung ist bis ins höchste Alter hinein von uns selbst mitgestaltbar! Eine zentrale Erkenntnis der neueren Psychologie des Alterns ist, dass ältere Menschen über erstaunlich vielfältige Techniken verfügen, wie sie ihr Wohlbefinden aufrechterhalten und sich gegenüber Widrigkeiten des Älterwerdens wappnen können. Denn wo uns beim Schlagwort „Älterwerden“ sofort die zunehmenden körperlichen Beschwerden in den Sinn kommen, ist uns selten bewusst, dass uns die Um- und Neubewertung von nicht mehr erreichbaren Zielen leichter fällt, je älter wir werden. Wir klammern uns nicht mehr so stark an bereits davon geschwommene Felle wie noch mit 40, 50 Jahren. Außerdem wissen wir mit zunehmendem Alter meist sehr viel besser, was uns guttut und wählen auch die entsprechende Lebensweise. Unsere Akzeptanz für Unveränderbares steigt, unser Kompensationsvermögen wird ebenfalls besser: Je älter wir werden, desto eher sind wir bereit, die Dinge anders anzupacken, wenn es auf bisherige Weise nicht mehr geht.
Fazit: Es gibt viel zu tun
All das macht Lust darauf, sich mit dem, was ab 60 kommt, aktiv auseinanderzusetzen. Wo stehen Sie jetzt und was hat Sie zu der Person gemacht, die Sie heute sind? Wie sehen Sie sich, welche Altersidentität ist Ihre? Und wo möchten Sie hin und wie möchten Sie das gestalten? Viele spannende Fragen, die erst durch das Älterwerden möglich werden. Antworten darauf zu finden, wird für Sie sehr bereichernd sein – als Ihr Coach begleite ich Sie gerne auf dem Weg dorthin.
Zum Weiterlesen
- Abels et al. (2008). Lebensphasen. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
- Hofmeister, S. (2014). Wo stehe ich und wo geht´s jetzt hin. Wie Sie den roten Faden im Leben finden. München: GU
- Lehofer, M. (2020) Alter ist eine Illusion. Wie wir uns von den Grenzen im Kopf befreien. München: GU
- Wahl, H. (2. Aufl. 2017). Die neue Psychologie des Alterns. Überraschende Erkenntnisse über unsere längste Lebensphase. München: Kösel
Dies ist der Beitrag 8 rund um Übergänge, Perspektivwechsel und Coaching. Im nächsten Beitrag geht es um die Rolle der Umgebung in der Selbstentwicklung und wie Natur auf die menschliche Psyche wirkt.