Analysieren und intervenieren für mehr organisationale Resilienz – Teil 2/3

Entscheidungen, die in Organisationen getroffen werden, betreffen die drei Sinndimensionen Sachdimension, Zeitdimension und Sozialdimension. In jeder Dimension finden sich mehrere Leitunterscheidungen, die zwischen zwei gegensätzlichen Polen oszillieren: Irgendwo zwischen diesen Polen muss die Organisation sich positionieren, um eine Entscheidung zu treffen. Veränderungsvorhaben für mehr organisationale Resilienz können anhand der drei Sinndimensionen analysiert werden, um eine zielführende Lösung zu entwickeln.

Während Sie im ersten Teil dieser dreiteiligen Blog-Serie über die Sachdimension gelesen haben, geht es hier im zweiten Teil um die Zeitdimension und welche Aspekte in zeitlicher Hinsicht die Entscheidungen in Organisationen beeinflussen.

Die Zeitdimension ist bei Entscheidungen ein wichtiges Thema. Einmal getroffene Entscheidungen beeinflussen, wie sich eine Organisation in der Zukunft verhalten wird und das verleiht ihr Stabilität. Stabilität, die alle Organisationen brauchen, um ihre Kernaufgaben zuverlässig zu erfüllen. Deswegen reduzieren sie durch Entscheidungen Komplexität, indem sie bestimmte Strukturen und Prozesse festlegen: Für einen bestimmte Zeitraum, bestimmte Personen und bestimmte Handlungen schafft es Stabilität, wenn nicht hinterfragt werden muss, welche Reaktion in jeder einzelnen Situation die beste ist. Das bedeutet, dass die Zukunft generell als gestaltbar und beeinflussbar angenommen wird, denn es gibt Regeln, an die sich alle halten werden. Aber: Gleichzeitig gehen Organisationen (aus Erfahrung) davon aus, dass die Zukunft unvorhersehbar ist und unerwartete Ereignisse bringt! Jede Organisation muss also paradoxerweise mit zwei Zukünften gleichzeitig agieren: Mit der gestaltbaren Zukunft, die sie durch Entscheidungen und daraus folgenden Regeln beeinflusst und mit der unvorhersehbaren, auf deren Unplanbarkeit sie sich flexibel einstellen muss. Daher muss eine Organisation sich bewusst machen, dass Entscheidungen immer nur für einen bestimmten Zeitraum gelten können und je nach Situation neu angepasst werden müssen. Sie muss also bei jeder Entscheidung die Zeitdimension berücksichtigen.

Leitunterscheidungen in der Zeitdimension

Die Organisation stellt sich in der Zeitdimension den Leitunterscheidungen „Vergangenheitsorientierung“, „Gegenwartsorientierung“ und „Zukunftsorientierung“. In jeder dieser Leitunterscheidungen bewegt sie sich zwischen zwei Polen, und im Detail muss sie die folgenden zentralen Aspekte miteinbeziehen:

Vergangenheitsorientierung

Diese Leitunterscheidung Vergangenheitsorientierung betrifft die Frage, ob alles bleiben soll, wie es ist (der „bewahrende“ Pol) – oder ob sich das, was bisher galt, verändern soll (der „lernende“ Pol). Eine Organisation kann dazu tendieren, Tradition und Systeme, die funktionieren, beizubehalten. Sie kann aber genauso gut entscheiden, Neues zu versuchen und mögliche Chancen zu nutzen.

Zuerst einmal besteht eine Organisation nur deswegen, weil sie einmal getroffene Entscheidungen beibehält und sich so stabil hält. Keine Organisation, die jeden Tag alles in Frage stellen und neu erfinden würde, könnte überleben. Dennoch fällt in bestimmten Situationen die Entscheidung, dass etwas bisher Bestehendes verändert werden soll. Was dabei oft übersehen wird: Wenn etwas verändert wird, also etwas Neues erlernt wird, vergeht das bisher Bestehende nicht von alleine. Es muss von den Beteiligen aktiv „verlernt“ oder nicht mehr getan werden. Deswegen wird der Aufwand, den Organisationen betreiben müssen, um Veränderung zu erreichen, oft unterschätzt: Es braucht Lernen und Verlernen gleichzeitig. Die Entscheidung, Bestehendes nicht verlernen zu wollen, ist deswegen auf keinen Fall mit Feigheit oder Mutlosigkeit gleichzusetzten. Die bewusste Entscheidung, etwas nicht zu verändern, kann genauso zielführend sein wie eine Entscheidung für die Veränderung!

Und: Wissen ist der Feind des Lernens. Denn Organisationsmitglieder, die bereits viel wissen, sind automatisch weniger neugierig und probierfreudig für neue Lösungen. Nicht-Wissen bringt Unsicherheit mit sich, und wenn Organisationen sich verändern wollen, tun sie gut daran, die Qualität der Ungewissheitstoleranz bei ihren MitarbeiterInnen zu fördern – übrigens eine wichtige Fähigkeit für individuelle Resilienz, gerade im VUCA-Umfeld.

Erinnern Sie sich an das Beispiel der Lieferkettenschwierigkeiten aus dem ersten Teil dieser Blogserie? Die Workshop-TeilnehmerInnen analysierten die Situation auch hinsichtlich der Pole Bewahrend-Lernend und fanden diese Fragen dazu:

  • Welche Wege funktionieren auch jetzt noch und sollten beibehalten werden?
  • Wo gibt es Chancen zu einer nachhaltigen Veränderung über die Coronakrise hinaus?
  • Welche schwachen Signale für Veränderung gibt es, die wir in Zukunft als Anstoß für Veränderungen nutzen wollen?

Gegenwartsorientierung

Die Leitunterscheidung Gegenwartsorientierung bewegt sich zwischen den Polen „Regelgerecht“ und „Situationsgerecht“. Organisationen müssen entscheiden, ob sie ihre internen Regeln anwenden oder ob in bestimmten Situationen bestimmte Personen anders als sonst reagieren dürfen. Im Leitprozess Gegenwartsorientierung spiegelt sich besonders eindrücklich das Spannungsfeld, in dem sich organisationale Resilienz zwischen Stabilität und Flexibilität bewegt, wider: Jede Organisation braucht Regeln, damit sie stabil ist und auch morgen noch bestehen kann. Gleichzeitig fordern viele Situationen aber eine flexible Reaktion auf veränderte Umweltbedingungen!

In Organisationen gilt immer das Prinzip, dass eine starke Tendenz in Richtung eines Pols eine Tendenz in Richtung des anderen Pols hervorruft. So auch bei der Leitunterscheidung Gegenwartsorientierung: Je mehr Regeln sich eine Organisation gibt und je starrer diese ausgelegt werden, desto schneller wächst im Normalfall ein informelles Netzwerk von „kleinen Dienstwegen“, Regel-Umgehungen und kreativer Auslegung von Regeln. Es kann durchaus Sinn machen, sich dieses informelle Netzwerk genauer anzuschauen um zu prüfen, an welchen Stellen Regeln aufgeweicht oder geändert werden können. In jedem Fall sollten Organisationen bei Entscheidungen beide Netzwerke – das formelle Regelwerk und das informelle Netzwerk – im Blick behalten.

In unserem Workshop-Beispiel der Lieferkettenschwierigkeiten ergab die Analyse der Workshop-TeilnehmerInnen:

  • Wer muss bei Änderungen um Einverständnis gebeten werden?
  • Welche informellen, bereits bestehenden Lösungswege gibt es?
  • Behindern bestimmte Regeln eine flexible Lösung? Können sie für einen definierten Zeitraum außer Kraft gesetzt werden?

Zukunftsorientierung

Die Leitunterscheidung Zukunftsorientierung hat zwei gegensätzliche Ausprägungen, die besonders häufig mit organisationaler Resilienz in Verbindung gebracht werden: „Risikonehmend“ oder „gefahrentragend“. Welche Risiken will eine Organisation eingehen, um Chancen in der Zukunft zu ergreifen – und auf welche möglichen zukünftigen Gefahren muss sie sich in jedem Fall einstellen?

Keine Organisation kann wissen, was die Zukunft bringt. Sie kann dieser Zukunft auf zwei Arten begegnen: Abwarten, was passiert und sich dafür rüsten, im richtigen Moment die passenden Handlungsoptionen zur Verfügung zu haben. Damit handelt die Organisation gefahrentragend und benötigt genügend Robustheit, Redundanzen etc., um auf alle möglichen Situationen reagieren zu können. Oder die Organisation beeinflusst die eigene Umwelt und versucht, die Zukunft im eigenen Sinne zu gestalten: damit handelt sie risikonehmend. Denn sie kann sich irren mit ihren Annahmen, wie sehr sie die eigene Umwelt entwickeln und beeinflussen kann; die Strategie kann erfolglos und ressourcenverschlingend sein. Die gefahrentragende Strategie muss aber nicht automatisch sicherer sein als die risikonehmende, denn auch die bestgerüstete Organisation kann nicht immer auf alles vorbereitet sein – mal ganz abgesehen von den Kosten, die eine solche Vorbereitung verursacht.

Organisationen bewegen sich aber nicht nur in ihrer Aktion nach außen zwischen den beiden Polen der Leitunterscheidung „Zukunftsorientierung“. Die interessante Rückkopplung zwischen gefahrentragenden und risikonehmenden Parteien macht auch viele Konflikte innerhalb einer Organisation verständlich. Denn wenn ein bestimmter Bereich sich entscheidet, risikonehmend zu agieren, weist er automatisch anderen Bereichen den gefahrentragenden Part zu. Fällt also beispielsweise der Einkauf die Entscheidung, bei stockenden Lieferwegen die bestehenden Verbindungen zu kappen und Verhandlungen mit neuen, vielversprechenden lokaleren AnbieterInnen zu suchen, dann trägt die Produktion, die näher an den KundInnen arbeitet, das Risiko, ob diese Strategie aufgehen wird. In jedem Fall kommt hier ein weiterer Schlüssel organisationaler Resilienz ins Spiel: INFORMATION UND WISSEN TEILEN. Organisationen tun gut daran, Entscheidungen bewusst bestimmten gefahrentragenden Parteien mitzuteilen, damit sie sich auf mögliche Zukünfte einstellen können.

Die Idee, risikonehmend andere Einkaufswege aufzutun, stammt aus dem Workshop zu den Lieferschwierigkeiten. Daneben sammelten die Workshop-TeilnehmerInnen auch noch diese Fragen:

  • Welche Szenarien gibt es für den weiteren Verlauf der Corona-Pandemie? Welche Gefahr besteht bei jedem Szenario, wenn nichts verändert wird?
  • Wie lange können wir die Lieferschwierigkeiten noch durch bestehende Redundanzen auffangen?
  • Welche unternehmensinternen Bereiche tragen eine Entscheidung für einen Lieferantenwechsel mit, welche eher nicht?

Sicherheit und Risikobewältigung – organisationale Resilienz in der Zeitdimension

In der Zeitdimension beschäftigen sich Organisationen mit der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Themen, die große Fragen aufwerfen: Verändern oder beibehalten? Akzeptieren oder Angehen? Sicherheit oder Risiko? Allgemein gültige Entscheidungen kann es nie geben, denn Entscheidungen sind immer zeitgebunden.

Organisationale Resilienz kann jedoch in jede Richtung entwickelt werden: Durch den Aufbau von Sicherheit und erfolgreicher Prävention, oder durch die Bewältigungserfahrung von schwierigen Situationen – denn gerade an ihnen wachsen Organisationen oft. Deswegen lohnt es sich, gerade in oder nach Krisen genauer hinzuschauen und wirkungsvolle Resilienz-Strategien für die Zukunft beizubehalten oder zu planen.

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