Entscheidungen ohne Grund

Warum führen nur wenige Entscheidungen, die in Organisationen getroffen werden, klar zum Erfolg – und noch weniger zum eigentlich angestrebten Ziel? Klaus Eidenschink und Ulrich Merkes entwickeln in ihrem Buch eine Theorie zur Beratung von Organisationen auf der Grundannahme, dass es keine NUR richtigen Entscheidungen in Organisationen gibt.

„Entscheidungen ohne Grund. Organisationen verstehen und beraten“ – Buchbesprechung von Prof. Dr. Jutta Heller über das Buch von Klaus Eidenschink/Ulrich Merkes (2021) auf Grundlage der Metatheorie der Veränderung.

Was sind Entscheidungen?

Jede Entscheidung, die zu einem richtigen Ergebnis führt, kann man auch von einem anderen Standpunkt aus betrachten – und von diesem aus kann das Ergebnis dann falsch sein. Das kommt daher, dass Organisationen hoch komplexe Systeme sind, in denen alles miteinander zusammenhängt und Auswirkungen aufeinander hat. Jede Organisation ist ein soziales System, sie kommt nicht ohne Konflikt aus. Die Autoren schreiben dazu: „Alles Passende erzeugt auch Unpassendes“. Konsistente und widerspruchsfreie Zielkonzepte kann es in einem solch komplexen System nicht geben.

Das komplexe System „Organisation“ besteht aus Entscheidungen. Sie sind immer dann nötig, wenn zwei Polaritäten, die als gleich wichtig oder gleich möglich angesehen werden, nicht gleichzeitig verwirklicht werden können. Man kann erst dann von wirklichen Entscheidungen sprechen, wenn sie bei einer der beiden Seiten zu einem Verlust/einem unerwünschten Ergebnis führen. Unterschiedliche Standpunkte kommen zu unterschiedlichen Entscheidungen, weswegen Entscheidungen immer kritisiert werden können. Denn: Die Nützlichkeit einer echten Entscheidung erweist sich erst in der Zukunft.

Umgang mit Entscheidungen in Organisationen

Den Überlegungen, wie sich Organisationen dem Verständnis von Entscheidungs-Prozessen nähern können, liegen sechs Prämissen zugrunde:

  • Organisationen sind Prozess und nicht Ding. Zu klären ist nicht die Frage, was Organisationen sind, sondern wie das Organisieren vor sich geht. Entscheidungen müssen aufrechterhalten werden, um sich gegen Umwelten zu verteidigen und gleichzeitig immer wieder in Frage gestellt werden, um sich an veränderte Umwelten anzupassen.
  • Organisationen kultivieren Konflikte. Wertpolaritäten können nicht an der gleichen Stelle gleichzeitig realisiert werden: Es gibt Spannungsfelder zwischen Vertrauen und Kontrolle, zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen Regeln und Freiräume etc. Das muss berücksichtigt werden, um die innere Logik von Entscheidungsprozessen zu verstehen.
  • Organisationen sind Viel-Zweck-Instrumente. Sie berücksichtigen viele relevante Umwelten: Wirtschaft, Recht, Politik, Massenmedien, Erziehung, Wissenschaft. Jede Veränderung zieht Konsequenzen an anderer Stelle nach sich, die anderen Zielen widerspricht.
  • Organisationen sind Kommunikation (über Entscheidungen). Der Fokus jeder Organisation liegt darauf, dass ununterbrochen Entscheidungen getroffen, kommuniziert und stabilisiert werden müssen. Mit „Entscheidungen“ sind in diesem Sinne kommunikative Vorgänge gemeint (nicht Ereignisse im Kopf eines Individuums).
  • Organisationen erzeugen stabile Muster. Sie reduzieren Komplexität, um Stabilität zu gewinnen. Das geschieht durch Entscheidungen.
  • Organisationen sind zeitlich und damit paradox. Keine Entscheidung ist für alle richtig, nebenwirkungsfrei, verlässlich, widerspruchsfrei und mit der restlichen Organisation abgestimmt. Das zeitliche Paradox besteht darin, dass die Zukunft von einer Organisation sowohl als gestaltbar und gestaltungsbedürftig angesehen wird und gleichtzeitig aufgrund aller Erfahrungswerte auch als unvorhersehbar und überraschungsreich. Deswegen ist eine Hauptaufgabe von Organisationen das Managen unerwünschter, unerwarteter, ungeplanter, in Kauf genommener Nebenfolgen von Entscheidungen.

Schon in diesen Prämissen wird deutlich, dass sich Organisationen immer mit den zwei großen Themen Stabilität und Flexibilität auseinandersetzen müssen, um zu bestehen und widerstandfähig zu bleiben. Sie sind die Polaritäten, zwischen denen Organisationen sich bewegen, um organisationale Resilienz aufzubauen und zu erhalten.

Neun Leitprozesse der Metatheorie

Die Metatheorie im Buch von Eidenschink/Merkes schlägt neun Leitprozesse vor, mit denen sich Organisationen beschreiben lassen und die im Fokus von Entscheidungen stehen. Jeder Leitprozess hat gegensätzliche Ausprägungen, die weder richtig noch falsch sind. Diese Leitprozesse orientieren sich an den Luhmann´schen sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinndimensionen und sind: Vernetzung, Entscheidungsorientierung, Qualitätsfokus – Sozialkomplexität, Entscheider, Personal – Vergangenheitsbehandlung, Gegenwartsbehandlung, Zukunftsbehandlung. Mit diesen neun Leitunterscheidungen lassen sich Prozesse in Organisationen benennen, untersuchen und beschreiben. Sie bieten eine organisationsunabhängige Beobachtungsstruktur für den Blick auf die Organisation an.

Welche Vorteile hat nun dieses metatheoretische Beobachtungssystem? Es hilft dabei zu verstehen, wie komplex und vernetzt Organisationen sind. Unterschiedliche Beratungsansätze lassen sich entlang der Leitprozesse erklären und einordnen, gleichzeitig wird auch immer klar, in welchen Bereichen bestimmte Ansätze Abstriche oder Verluste mit sich bringen. Dadurch lenkt die Metatheorie den Blick auf´s Ganze und bezieht auch diejenigen Menschen mit ein, für die eine Entscheidung zum falschen Ergebnis führt.

Entscheidungen für mehr organisationale Resilienz

Komplexität überfordert grundsätzlich, denn es ist eine ihrer Grundeigenschaften, dass wir sie nicht nachvollziehen, analysieren und verstehen können. Will eine Organisation resilient werden, muss sie mit komplexen Situationen, mit Unsicherheiten und Entscheidungen, die nie richtig sein können, leben lernen. Sie muss mit den eigenen inneren Widersprüchen umgehen, anstatt zu versuchen sie auszulöschen. Dabei stoßen Organisationen immer wieder auf die Polarität Stabilität und Flexibilität: Eine resiliente Organisation muss stabil sein, um äußeren Druck abfedern zu können, gleichzeitig muss sie flexibel auf neue Anforderungen reagieren können. Um mit diesem Dilemma umzugehen, schlage ich einen Perspektivenwechsel vor: Organisationen richten den Fokus nach innen, wo sie Stabilität erhöhen, und nach außen, wo sie flexibler werden. Innere Stabilität erreicht eine Organisation zum Beispiel durch eine klare Definition der eigenen Werte, die wie Fixpunkte zur Orientierung bei Entscheidungen dienen. Flexibilität nach außen kann sie z.B. durch eine hohe Vertrauenskultur erreichen, die allen MitarbeiterInnen große Handlungsspielräume eröffnet, um mit ungeplanten Situationen umzugehen. In jedem Fall erhöht eine Haltung des Sowohl-als auch die organisationale Resilienz einer Organisation, weil sie Möglichkeitsräume in beide Polaritäts-Richtungen öffnet.

Fazit

Der kompakte Umfang des Buches „Entscheidungen ohne Grund“ kann täuschen: In den nur 114 Seiten drängen sich interessante Gedanken, Erklärungen von Zusammenhängen und Denkanstöße. Wer dieses Buch liest, braucht die Bereitschaft, sich auf neue Gedankengänge einzulassen und sollte sich auch die nötige Zeit nehmen, um diese nachzuvollziehen – dann wird er/sie aber auch mit spannenden Einsichten belohnt. Es sollte im bisherigen Text schon klar geworden sein, dass das Buch keine Handlungsanweisungen geben will im Sinne von „Wenn eine Organisation A will, muss sie B tun!“ – vielmehr lenken Eidenschink und Merkes immer wieder den Blick auf die unterschiedlichen Polaritäten, die in Organisationen zu finden sind, und die immer beide wichtig sind für die Widerstandsfähigkeit des Gesamtsystems. Das ist aus meiner Sicht auch die große Stärke der Metatheorie der Veränderung: Sie bietet ein tieferes Verständnis für das komplexe System „Organisation“ und zeigt die richtigen Fragen auf, um dieses System in Bewegung zu bringen.

 

Welche Polaritäten bewegen Ihre Organisation?  Und wie gehen Sie damit um? Ich freue mich auf Ihre Kommentare!

 


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