Regenerative Selbstführung – Nachhaltig mit sich und anderen umgehen
Ich bin, jetzt im Oktober, oft am Nachmittag schon müde. Und damit bin ich nicht alleine: Viele Menschen merken körperlich, dass der Herbst begonnen hat und sie sich so fühlen, als ob sie am liebsten in den Winterschlaf-Modus gehen würden. In der Natur ist das nämlich so: Wenn der Sommer vorbei ist und die kälteren Jahreszeiten beginnen, bereitet sie sich auf eine Pause vom Wachsen, Hervorbringen, Leisten vor. Im Winter läuft alles auf Sparflamme, um dann im kommenden Jahr wieder umso frischer und mit mehr Energie neu zu starten.
Ich finde, wir sollten uns an solchen Zyklen der Natur ein Beispiel nehmen – gerade in verantwortungsvollen Positionen. Und selbstverständlich schlage ich Ihnen nicht vor, Ihre Führungskräfte für ein Vierteljahr in eine warme Höhle zum Schlafen zu schicken – aber genau wie die Natur brauchen auch Menschen gewisse Pausen für ihre Regeneration, wenn sie dauerhaft leisten wollen. Denn niemand kann auf Dauer powern, ohne irgendwann an die eigenen Grenzen zu geraten. Ich plädiere deswegen für eine regenerative Führung: Für Führungskräfte, die ihre Eigen-Verantwortung zur Selbstfürsorge ernst nehmen, um nachhaltig für das Unternehmen da zu sein.
Selbstfürsorge hat greifbare Vorteile
Selbstfürsorge steht bei vielen Führungskräften leider nach wie ganz unten auf der Prioritätenliste. Ihr Selbstbild ist dominiert von Stärke, Disziplin und Ausdauer. Und das sind hervorragende Eigenschaften – die sich aber vor allem dann in Gänze entfalten können, wenn man gleichzeitig für sich sorgt. Zum Beispiel, indem man sich Pausen nimmt.
In meinen Workshops mit Führungskräften kommt oft das Thema auf, keine Zeit für Pausen zu haben. Dann arbeiten wir gemeinsam die positiven Effekte von Pausen heraus – denn davon gibt es einige. Die Erfahrung, dass Pausen die Konzentration und Flexibilität im Denken steigern, hat wahrscheinlich schon jede*r selbst gemacht. Das ist auch gut untersucht und nachgewiesen: Zum Beispiel bleibt die Aufmerksamkeit während einer Aufgabe wesentlich höher, wenn zwischendurch Pausen eingelegt werden, in denen man sich mit etwas völlig anderem beschäftigt. Dafür reichen schon Mini-Pausen von etwa einer Minute – solange man wirklich an etwas anderes denkt. Auch Kreativität und Problemlösungsfähigkeit steigen in Pausen: vor allem bei geringer kognitiver Beanspruchung wie zum Beispiel beim Spazierengehen oder beim Dösen. Dann aktiviert sich nämlich das Default Mode Network im Gehirn, ein Zustand, in dem intuitive Ideen entstehen.
Und auch die Gesundheit profitiert von einer regenerativen Führung, die dem Körper und dem Geist Erholungszeiten erlaubt. Schon allein der Muskelapparat, der das viele Sitzen der modernen Arbeitswelt gar nicht gut verträgt und schon Mikropausen sehr wertschätzt: Die regelmäßige kurze Dehn-Übung im Stehen statt im Sitzen, oder eine Augenentspannung am Fenster – die Regelmäßigkeit ist hier entscheidend. Erholungspausen schützen aber auch vor Burn-out, gerade solche mit hoher Erholungsqualität. Fehlen Sie, steigt das Risiko für chronische Erschöpfung, körperliche Stress-Symptome und psychosomatische Beschwerden stark an.
Und noch ein weiterer Aspekt, den ich Führungskräften gerne mit auf den Weg gebe: Achtsame Pausen wie zum Beispiel kurze Atemübungen in Akutsituationen können emotionalen Stress direkt reduzieren. So steigt man aus dem Reiz-Reaktions-Autopiloten aus und gibt sich selbst die Chance, sich emotional bewusst zu regulieren. Das ist zentral für Selbstführung und Führung anderer.
Energieressourcen nachhaltig auffüllen
Feierabend, Urlaub, Auszeiten: Das sind klassische Wege, um wieder zu Kräften zu kommen. Doch manchmal schaffen es diese Pausen nur, die Batterien gerade so weit aufzuladen, dass man wieder „funktionieren“ kann. Wenn Erholung bloß ein Mittel zur kurzfristigen Wiederherstellung ist, ist das nicht nachhaltig – wirkliche Regeneration braucht manchmal mehr als „nur“ Zeit.
Ein zentraler Aspekt dabei ist Sinn. Die Erfahrung, dass das, was man tut, persönlich bedeutsam ist, setzt enorme Energie frei. Der Medizinsoziologe Aaron Antonovsky hat dies im Konzept der Salutogenese beschrieben: Gesundheit – und damit auch Widerstandskraft und Energie – entsteht dort, wo Menschen ihr Leben als verständlich, handhabbar und sinnhaft erleben. Diese drei Dimensionen lassen sich auch auf die Arbeitswelt übertragen. Führungskräfte, die wissen, wozu sie beitragen und die erleben, dass ihre Handlungen einen Unterschied machen, finden in dieser Haltung eine tragfähige Quelle innerer Stärke. Um dieses „Wofür“ zu finden, machen wir in Trainings Wertearbeit: Wo stimmen meine Aufgaben mit meinen Werten überein? Wie kann ich meine Werte mehr integrieren? In welchen Aspekte meiner Führung kann ich mich „verwirklichen“? Führungskräfte, die auf solche Fragen klare Antworten finden, empfinden lästige Aufgaben durchweg als weniger belastend als vorher.
Auch soziale Beziehungen sind eine unterschätzte Energiequelle. Wer sich mit anderen verbunden fühlt, kann Belastung besser ausgleichen – Stichwort Resilienzschlüssel Netzwerkorientierung. In guten Gesprächen, im Austausch mit Kolleg*innen oder dem Team oder bei gemeinsamen Erlebnissen mit Freund*innen kann echte Erholung entstehen. Studien zeigen: Soziale Unterstützung schützt nicht nur vor Stress, sie stärkt auch das Immunsystem und fördert das emotionale Wohlbefinden. Bei Untersuchungen des sogenannten „Stress-Puffer-Modells“ wurde immer wieder nachgewiesen, dass soziale Unterstützung die subjektive Beeinträchtigung durch belastende Ereignisse abpuffert – soll heißen, dass wir Stress viel besser handhaben können, wenn wir uns integriert und wertgeschätzt fühlen.
Ein weiterer, oft übersehener Hebel: positive Emotionen. Optimismus, Humor, Dankbarkeit – das klingt nach Kalenderweisheiten, ist aber neurobiologisch wirksam. Die Psychologin Barbara Fredrickson hat mit ihrer „Broaden-and-Build“-Theorie gezeigt, dass positive Gefühle eine Positivspirale in Gang setzen: Das Erleben positiver Emotionen entspannt uns und öffnet den Geist, so dass uns mehr Möglichkeiten einfallen, wie wir uns etwas Gutes tun können. Diese positive Spirale ist mit steigender Stressresistenz verbunden – ganz abgesehen davon, dass Führungskräfte, die „gut drauf“ sind, auch eine viel bessere Arbeitsatmosphäre im Team schaffen.
Energiequellen müssen nicht spektakulär sein. Oft liegen sie im Alltäglichen: Ein Spaziergang im Grünen. Musik, die die Stimmung hebt. Ein gutes Gespräch. Oder einfach ein Moment der Ruhe, in dem niemand etwas will. Wichtig ist, dass diese Quellen nicht zufällig sprudeln, sondern bewusst gepflegt werden. Regenerative Selbstführung beginnt bei der Entscheidung, sich ernst zu nehmen.
Neue Formen des Arbeitens bieten Chancen für Regeneration
Bisher war die Rede vor allem von individuellen Möglichkeiten, um für persönliche Regeneration zu sorgen. Jetzt treten wir einen Schritt zurück und betrachten das Thema regenerativer Führung aus der Vogelperspektive. Denn: Auch Führungskräfte können Arbeitsbedingungen umgestalten, um so für sich selbst und ihre Energiereserven zu sorgen. Zum Beispiel durch Führung in Teilzeit, zyklisches Arbeiten und andere innovative Arbeitsmodelle.
Führung in Teilzeit war und ist in vielen Köpfen ausschließlich mit dem Thema Kindererziehung verbunden – und sicherlich stellt die Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Care-Arbeit für die eigenen Kinder einen der Hauptgründe für den Wunsch nach Teilzeit dar. Aber auch viele andere Gründe machen es attraktiv, neben der Führungsposition einen größeren Freizeitanteil zu haben: Eine intensive Weiterbildung etwa, ein Ehrenamt, Pflege von Angehörigen oder ein zeitintensives Hobby. Und egal, aus welchem Grund: Wer Job und sonstiges Leben mit mehr Gelassenheit in Einklang bringen kann, der/die sorgt für die eigene Regeneration und eine höhere Belastbarkeit auf lange Sicht. Im Buch „So wird Führung in Teilzeit zum Erfolg“ von Johanna Fink habe ich viele nützliche Impulse gefunden, wie genau so eine Führung in Teilzeit aussehen kann – schon allein angefangen bei der organisatorischen Gestaltung, für die es neben der „klassischen“ Stundenreduktion noch Modelle wie Co-Leadership, das Vertreter-Modell oder Shared Leadership gibt.
Im Grunde ist ein Teilzeitmodell eine Form des zyklischen Arbeitens. Zyklisches Arbeiten bedeutet, im Einklang mit der eigenen Energie zu arbeiten – nicht gegen sie. Es ist ein Gegenmodell zur Erschöpfungslogik von „höher, schneller, dauerhafter“ und orientiert sich wieder an den Zyklen, die uns die Natur vorlebt: Intensive Phasen, Übergangsphasen und Ruhephasen wechseln sich ab. Schon innerhalb eines einzelnen Tages lassen sich solche Rhythmen nutzen: Zum Beispiel, indem man 90-minütige Fokusphasen einplant und anschließend eine Pause macht, in der wirklich abgeschaltet wird – also weg vom Bildschirm, raus aus dem Projektdenken. Auch über größere Zeiträume hinweg funktioniert zyklisches Arbeiten: etwa indem man nach einem intensiven Projektabschluss eine Phase einplant, in der das Erlebte reflektiert, Prozesse verbessert oder neue Ideen entwickelt werden dürfen – ganz ohne sofort das nächste Ziel anzuvisieren.
Gerade für Menschen in verantwortungsvollen Positionen ist dieses bewusste „Runterfahren auf Zeit“ oft ungewohnt – aber enorm wirkungsvoll. Denn in der Ruhe liegt nicht nur Erholung, sondern oft auch strategische Klarheit. Es geht also um Taktung: Arbeit so zu gestalten, dass sie mit dem menschlichen Energiehaushalt kompatibel ist und ihn nicht komplett leer zieht.
Nicht nur sich selbst, sondern auch andere nachhaltig führen
Regenerative Führung wirkt aber nicht nur nach innen – sondern auch nach außen. Wer selbst mit Klarheit, Ruhe und emotionaler Stabilität führt, beeinflusst damit das gesamte Teamklima. Stimmung ist ansteckend: Eine ausgeglichene, gut gelaunte Führungskraft schafft ein anderes emotionales Umfeld als jemand, der oder die gehetzt, übermüdet oder im permanenten Reizmodus unterwegs ist. Gerade in stressintensiven Phasen braucht es solche Führungskräfte, die gelassen und positiv bleiben können.
Ein weiterer Effekt zeigt sich oft erst auf den zweiten Blick: Wer sich Pausen nimmt oder zeitweise zurücktritt – etwa durch Teilzeit, Fokuszeiten oder klare Grenzen im Arbeitsalltag – gibt automatisch Verantwortung ins Team ab. Das heißt nicht, sich aus der Verantwortung zu stehlen, sondern im Gegenteil Selbstorganisation zu fördern. Wenn nicht ständig Rückversicherungen bei der Führungskraft nötig sind, werden Entscheidungen im Team eigenständiger getroffen. So wächst die Selbstwirksamkeit der Mitarbeiter*innen – und damit auch ihr Engagement.
Gleichzeitig entsteht durch solche Arbeitsweisen eine ganz neue strukturelle Belastbarkeit: Wenn Regeneration, Rückzug oder Abwesenheit organisatorisch mitgedacht werden – etwa in Form von Jobsharing, Vertretungsmodellen oder klaren Kommunikationsregeln – hängt nicht mehr alles an einer Person. Wissen wird geteilt, Prozesse werden entkoppelt von individuellen Verfügbarkeiten, die Organisation wird robuster. Das schützt nicht nur Einzelne vor Überlastung, sondern erhöht die Zukunftsfähigkeit des gesamten Systems.
Und nicht zuletzt: Regenerative Führung kann helfen, eine neue Norm zu etablieren. Wenn Führungskräfte selbstverständlich über ihre Energie sprechen, Pausen machen, Teilzeit leben oder klar ihre Grenzen kommunizieren, dann verändert sich das, was als „normal“ gilt. Regeneration wird nicht länger als Ausnahme oder heimliches Bedürfnis betrachtet, sondern als Teil professioneller Arbeit. Das schafft psychologische Sicherheit und öffnet auch anderen im Team den Raum, sich selbst mit mehr Achtsamkeit zu führen.
Wir alle brauchen Erholung, um leisten zu können. Ruhe, um wachsen zu können. Mir gefällt der Gedanke, dass wir uns an der Zyklus-Idee der Natur orientieren können, um im Einklang mit unseren Energiereserven zu arbeiten. Damit Leistung möglich bleibt und nicht auf Kosten der Substanz geht.
Unterstützen Sie Ihre Führungskräfte dabei, ein psychologisch sicheres Umfeld aufzubauen. Vereinbaren Sie einen kostenlosen Beratungstermin, damit wir den passenden Workshop, Training oder Coaching für Sie finden. Nicht als Standardlösung, sondern als passgenau fokussierte Maßnahme.








