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Eisberge

Eisberge entdecken

Haben Sie schon Situationen erlebt, in denen Ihre Emotionen Sie übermannten? Waren Sie zutiefst niedergeschlagen anstatt nur ein bisschen traurig zu sein? Oder gab es Situationen, in denen Sie sich nicht unter Kontrolle hatten und Ihr Verhalten regelrecht ausscherte?

Das alles hat mit unseren grundlegenden, tief verwurzelten Werten und Überzeugungen zu tun. Das sind die eigenen Vorstellungen darüber, wie Menschen sich zu verhalten haben und Dinge gemacht werden sollten (Reivich & Shatté, The Resilience Factor, 2003, S. 123). Kurz: Sie leiten unser Denken, Fühlen und Handeln und geben uns Orientierung. Sie bestimmen daher auch, wie wir Krisen, Konflikten und Veränderungen begegnen. Aber sie führen oft dazu, dass wir unverhältnismäßig emotional, der Situation nicht entsprechend und damit ineffektiv reagieren.

Diese tiefen Überzeugungen sind uns jedoch unbewusst. Da sie für uns nicht sichtbar sind, nennt man sie auch „Eisberg-Überzeugungen“. Wenn wir uns dieser bewusst werden, können wir unsere Emotionen besser steuern und stärken damit unsere Resilienz. Das kann man üben. Doch zunächst zur Eisberg-Metapher.

Die Eisberg-Metapher

Was genau steckt hinter der Metapher des Eisbergs? Der Psychoanalytiker Sigmund Freud verwendete dieses Bild, um das Verhältnis zwischen Sichtbarem/Bewussten und Unsichtbarem/Unbewussten zu erklären.

Wir gehen davon aus, dass unsere Gefühle und unser Verhalten auf unsere bewussten Werte, Überzeugungen, Motive und Wünsche zurückzuführen sind. Doch von diesen ist uns nur ein kleiner Teil bewusst bzw. für uns sichtbar. Uns treibt allerdings noch viel mehr an. Diese Antreiber liegen allerdings im Unbewussten. Sie befinden sich also außerhalb unseres Blickfeldes. Das ist wie bei einem Eisberg: Die Spitze des Eisbergs – der kleinere Teil – befindet sich oberhalb der Wasseroberfläche und ist für uns sichtbar. Der Großteil eines Eisbergs befindet sich jedoch unter der Wasseroberfläche und ist nicht erfassbar. Zudem werden sie Eisberg-Überzeugungen genannt, weil sie meist starre und eingefrorene Vorstellungen sind.

Bewusste Überzeugungen

Bewusste Überzeugungen sind Bewertungen und Gedanken, die uns bei Situationen – sei es positive oder negative – durch den Kopf gehen. Karen Reivich und Andrew Shatté nennen diese in ihrem Resilienzkonzept „Moment-Aufnahme-Überzeugungen“, da sie ganz automatisch in bestimmten Momenten auftreten.

Ein Beispiel:

In Ihrem Gemeinschaftsbüro benutzt Ihre Büro-Kollege immer Ihr Büromaterial ohne darum zu bitten, obwohl er eigenes hat. Ihre „Moment-Aufnahme-Überzeugung“: „Er weiß ganz genau, dass das mein Büromaterial ist. Seine Sachen liegen doch direkt neben ihm und trotzdem benutzt er meins. Das macht doch überhaupt keinen Sinn. Das ist unhöflich und nervt einfach.“ Konsequenz: Sie werden wütend und verhalten sich ihm gegenüber reserviert und kühl.

Eisberg-Überzeugungen

Unsere unbewussten Eisberg-Überzeugungen sind natürlich gänzlich ineffektiv. Ganz im Gegenteil – Viele helfen uns und fördern ein erfolgreiches und glückliches Leben. „Auch wenn die Dinge schwierig werden, ich werde niemals aufgeben“ (Reivich & Shatté, 2003, S. 124) – das ist eine Überzeugung, die durchaus sinnvoll ist und den Resilienzfaktor Selbstwirksamkeit gut widerspiegelt. Ineffektive Bewertungen dagegen schränken uns ein und können zur Belastung werden. Darüber hinaus beruhen die meisten Konflikte im Arbeitsalltag auf Differenzen zwischen unterschiedlichen Eisbergen.

Beispiele für ineffektive Eisberg-Überzeugungen sind (vgl. Reivich & Shatté, 2003, S. 125-127):

  1. Ich muss in allen Dingen, die ich tue, erfolgreich sein.
  2. Um Hilfe zu bitten ist ein Zeichen von Schwäche.
  3. Ich möchte, dass Jeder immer nur Gutes von mir denkt.
  4. Ich kann niemandem trauen – alle möchten sich durch mich einen Vorteil verschaffen.

Es gibt noch viele weitere Beispiele für solche Eisberge. Grundsätzlich lassen sie sich in drei unterschiedliche Motiv-Kategorien einteilen:

  • Leistung: Wunsch nach Erfolg, Fokus auf Fehlervermeidung (vgl. Beispiel 1 und 2)
  • Akzeptanz: Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anschluss (vgl. Beispiel 3)
  • Kontrolle: Bedürfnis nach Kontrolle (Beispiel 4)

Diese vier Beispiele könnten ineffektive Folgen für den Berufsalltag nach sich ziehen. Dafür sollte man sich die möglichen Konsequenzen, z. B. für den Berufsalltag, überlegen:

  • Bei Beispiel 1 kann es schnell zu Stress und Überforderung kommen, da Niederlagen nicht akzeptiert werden.
  • So wird es sich wahrscheinlich auch im Beispiel 2 verhalten: Menschen mit dieser Haltung werden wohl äußerst selten um Hilfe bitten, also ganz gegensätzlich zum Resilienzfaktor Netzwerkorientierung.
  • Die Überzeugung aus Beispiel 3 kann schnell zu Enttäuschung und Verletzung führen, denn es wird wohl immer auch Menschen geben, die mit uns nicht auf der selben Wellenlänge sind.
  • Hat man eine/n Kollegen/-in mit der Haltung aus Beispiel 4, so wird Teamarbeit prinzipiell nicht möglich sein.

Es wird deutlich, was an den Überzeugungen nicht förderlich ist. Deswegen gilt es, diese Eisberg-Überzeugungen zu entdecken und aufzutauen. Dies ist ein wichtiger Schritt für die Emotionsregulation und damit entscheidend für die Stärkung der Resilienz. Wenn wir lernen unsere Eisberge zu entdecken, wirkt sich das auch positiv auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen aus. Wenn wir also nicht nur unsere Werte und Motive besser verstehen, sondern auch die verschiedenen Eisberge unserer Mitmenschen, stärken wir das Miteinander und eine erfolgreiche Zusammenarbeit.

Eisberge entdecken, auftauen und Resilienz aufbauen

Damit wir unseren eigenen Eisbergen bewusst werden und verstehen, was uns motiviert, sollte man zunächst für sich selbst folgende Fragen beantworten (in Anlehnung an Reivich & Shatté, 2003, S. 129):

  • Welcher Motiv-Typ bin ich? Bin ich eher der Zielerreichungs-Typ, der Akzeptanz-Typ oder Kontroll-Typ?
  • Wodurch entstehen bei mir zwischenmenschliche Konflikte: Liegt das daran, weil ich so stark karriereorientiert bin und mein Privatleben vernachlässige? Oder weil ich zu hilfsbedürftig bin oder allzu sehr Kontrolle ausübe?
  • Denke ich, dass ich in meiner Rolle als Führungskraft alleine für den Erfolg oder Misserfolg meiner MitarbeiterInnen verantwortlich bin.
  • Bin ich gekränkt, wenn ich von meinem Chef oder meinen KollegInnen kritisiert werde?
  • Reagiere ich mit Angst oder Wut auf die täglichen Fluktuationen und „Ups and Downs“ im Berufsalltag?

Das sind nur einige Beispiele, wie man seine Persönlichkeit besser entdecken kann. Viele unserer Motive entstehen aufgrund eigener Erfahrungen, der Werte und Meinungen andere oder haben sich durch unsere Erziehung und im Rahmen der Sozialisation entwickelt.

All unsere tief verwurzelnden Motive sind fest in uns verankert – sie sind in uns quasi einprogrammiert. Man kann diese Programme nicht einfach ausschalten, um Überreaktionen oder extreme Gefühle zu vermeiden. Um ineffektive Eisberge zu entdecken und aufzutauen, bedarf es viel Selbstreflexion. Mit den folgenden Fragen können Sie Ihre eigenen Eisberge noch konkreter aufspüren (Reivich & Shatté, S. 139):

  • Denken Sie an eine Situation, in der Sie das letzte Mal richtig überreagiert haben oder an einen kleinen Moment, der Ihren gesamten Tag ruiniert hat.
  • Beschreiben Sie Ihr ABC-Modell für diese Situation. Achten Sie auf alle Details, denken Sie an alle automatischen Gedanken, Gefühle und Ihr Verhalten in der Situation:
    A = Situation Gedanken, Bewertungen, Überzeugungen
    B = Gedanken, Bewertungen, Überzeugungen
    C = Emotionen und Verhalten
  • Prüfen Sie nun die B-C Verbindung:
    – Steh das C unverhältnismäßig zu Ihren Gedanken und Überzeugungen?
    – Gibt es eine Diskrepanz zwischen der Qualität des C und des B? (Beispiel: Sie fühlen sich traurig, obwohl Ihre spontanen Gedanken in der Situation Wut hervorrufen müsste.)
    – Fällt es Ihnen schwer, eine scheinbar leichte Entscheidung zu treffen?
  • Sollten einer dieser Punkte auf Sie zutreffen, sollten Sie anfangen, Ihre Eisberge zu entdecken. Versuchen Sie folgende Fragen zu beantworten:

– Was bedeutet das konkret für mich?
– Welcher Aspekt davon überrascht oder erschüttert mich am meisten?
– Welcher Aspekt ist für mich der Schlimmste?
– Was sagt das über mich aus?
– Was genau ist das Schlimme daran?
Es scheint, als ob man sich noch unendlich viele solcher Fragen stellen könnte. Doch es gibt einen klaren Endpunkt: Sobald Sie ein Aha!-Erlebnis haben:

  • Wenn Sie merken, dass Ihr C in einem sinnvollen Verhältnis zu B steht,
    wenn Ihre Reaktion nicht mehr unangebracht scheint,
  • wenn die Art Ihrer Emotionen Sinn macht oder
  • wenn Sie verstehen, wieso es Ihnen so schwer fällt, eine Entscheidung zu fällen.
  • Wenn Sie Ihre „Eisberge“ identifiziert haben, können Sie mit diesem neuen Bewusstsein auch Ihre Gefühle und Verhalten steuern und vielleicht sogar Ihre Eisberge damit auftauen.

Versuchen Sie folgende Fragen für sich zu beantworten

  • Ist der Eisberg weiterhin von Bedeutung für mich?
  • Ist der Eisberg in den gegebenen Situationen zutreffend?
  • Ist der Eisberg übermäßig starr oder streng?
  • Ist der Eisberg für mich nützlich?

Welche Gedanken und Überzeugungen würden zu einem positiven Gefühlszustand und zu einem adäquaten Verhalten führen?
Durch die Fähigkeit, die eigenen Eisberge zu entdecken und aufzutauen, können wir bei Krisen unsere Gefühle und Gedanken effektiver steuern. Dadurch erhalten wir mehr effektive Handlungsflexibilität und stärken unsere Widerstandsfähigkeit und somit auch unsere Resilienz.

Eisberge anderer entdecken

Die eigenen Eisberge zu entdecken stärkt nicht nur die eigene Empathie sondern auch unsere sozialen Beziehungen. Mit dem Bewusstsein, dass alle Menschen solche tief verwurzelten Überzeugungen haben, können wir besser verstehen, wieso es zu zwischenmenschlichen Konflikten kommt. Denn viele Eisberge sind einfach gegensätzlich und prallen dann aufeinander. Mit diesem Wissen können wir zum einen mehr Verständnis für die Gefühle und das Verhalten des Gegenübers aufbringen. Zum anderen können wir klarer kommunizieren was uns wichtig ist und welche Bedürfnisse wir haben, bevor uns unsere Gefühle überwältigen (Reivich & Shatté, 2003, S. 142-144).

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