Ambiguitätstoleranz fördern – Führen im Ungewissen

Von Führungskräften werden oft klare Antworten verlangt – in einer Welt, die sie längst nicht mehr liefert. Die Forschung zeigt deutlich, dass nicht fehlendes Wissen, sondern fehlende Ambiguitätstoleranz Teams in Unsicherheit lähmt. Was passiert, wenn wir auf Eindeutigkeit bestehen, obwohl die Realität mehrdeutig ist? Und wie viel Führung bleibt übrig, wenn wir nur Entscheidungen treffen, die sich sicher anfühlen? Wer in einer Welt voller Ambiguität führt, braucht keine perfekten Lösungen – sondern die Fähigkeit, Spannung auszuhalten und trotzdem handlungsfähig zu bleiben.

Führung in einer Welt voller Ambiguität

Der Begriff Ambiguität kam vermehrt auf im Zusammenhang mit der sogenannten VUCA-Welt – ein Akronym für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität (englisch complexity) und eben Ambiguität. Gemeint ist damit eine spezifische Form von Unklarheit: eine Situation, in der vorhandene Informationen widersprüchlich sind, sich nicht eindeutig zuordnen oder auflösen lassen – auch nicht durch weitere Recherche oder Analyse. Mehr noch: Je mehr man versucht, Klarheit zu gewinnen, desto mehr zeigt sich die Vieldeutigkeit der Lage.

In genau solchen Konstellationen muss heute Führung stattfinden. Entscheidungen sind zu treffen, obwohl ihre Auswirkungen kaum vorhersehbar sind. Strategien müssen entwickelt werden, obwohl die zugrundeliegenden Annahmen instabil sind. Und auch schon vor dem rapiden Aufstieg künstlicher Intelligenz war unsere Welt zunehmend durch Ambiguität geprägt: neue Märkte entstehen, disruptive Technologien verändern Spielregeln über Nacht, gesellschaftliche Trends lassen sich nicht mehr eindeutig einordnen. Wer hier auf alte Gewissheiten baut, steht schnell auf wackligem Boden.

Diese Dynamik betrifft auch die Führungsstrukturen selbst. Wo früher eindeutige Hierarchien herrschten und klar war, wer das Sagen hat, geht der Trend schon seit Jahren zu partizipativeren, fluideren Modellen. Führung wird in Teams verhandelt, Rollen sind nicht mehr statisch, sondern situationsabhängig. Verantwortung verschiebt sich – weg von „oben“ hin zu verteilten Steuerungsmodellen. Das bringt mehr Freiheit und Flexibilität mit sich, bedeutet aber auch mehr Aushandlung, mehr Unschärfe, mehr Spannungsfelder.

Ambiguität zeigt sich damit nicht nur in externen Einflussfaktoren, sondern auch im Inneren von Organisationen. Regeln und Zuständigkeiten müssen neu definiert, manchmal sogar im laufenden Prozess verändert werden. In dieser komplexen Gemengelage bedeutet Führung in der Unsicherheit vor allem, mit Mehrdeutigkeit umzugehen – ohne vorschnelle Vereinfachungen. Es geht darum, Unterschiede auszuhalten, Spannungen zu gestalten und tragfähige Entscheidungen auch dort zu treffen, wo Eindeutigkeit nicht zu erwarten ist.

An der Ambiguität der Situation können wir nicht so schnell etwas ändern, so viel ist klar. Sehr wahrscheinlich wird sie sogar noch zunehmen, so dass Führungskräfte eine Handhabe brauchen, wie sie mit der eigenen Unsicherheit angesichts ambiger Situationen umgehen können.

Ambiguitätstoleranz aufbauen

Ambiguitätstoleranz ist da die entscheidende Schlüsselkompetenz für Führung in der Unsicherheit. Dabei geht es nicht um eine Methode, die man einmal erlernt und dann abruft. Es geht um eine Haltung: Um die Fähigkeit, Spannungen auszuhalten, ohne sie vorschnell auflösen zu wollen. Und um das Vertrauen darin, auch ohne Eindeutigkeit Entscheidungen treffen zu können. Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, widersprüchliche Informationen, unklare Situationen und mehrdeutige Reize zu ertragen, ohne Stress, Ablehnung oder Übervereinfachung als Abwehrreaktion zu entwickeln. Menschen mit hoher Ambiguitätstoleranz neigen weniger zu Schwarz-Weiß-Denken, bleiben innerlich beweglich und halten eine differenzierte Sichtweise auch dann aufrecht, wenn sie emotional herausgefordert sind.

Übertragen auf den Führungsalltag bedeutet das: Wer Ambiguitätstoleranz entwickelt, kann handlungsfähig bleiben – auch dann, wenn Anforderungen sich widersprechen, Ziele unklar sind oder die Dynamik eines Systems keine einfachen Lösungen zulässt. Das betrifft nicht nur strategische Entscheidungen, sondern auch alltägliche Führungssituationen: Wie viel Kontrolle ist angemessen, ohne Eigenverantwortung zu behindern? Wie schafft man Orientierung, ohne die Komplexität einer Situation herunterzuspielen?

Growth Mindset

Die Psychologin Carol Dweck beschreibt ein interessantes Mindset, das auch im Umgang mit Unsicherheit helfen kann. Sie geht davon aus, dass man ein Growth Mindset oder ein Fixed Mindset einnehmen kann. Ganz kurz gesagt: Die einen sehen sich als lernende Wesen, die anderen betrachten sich bereits als fertig. Das Growth Mindset beinhaltet, dass man immer offen ist für neues Lernen, dass man fähig ist, bestehendes in Frage zu stellen und neue Fakten oder Informationen zu integrieren. Gleichzeitig bedeutet das aber auch, dass man das eigene Selbstbild als jemand, der vieles nicht weiß, akzeptieren muss und es als eine Stärke ansieht, Fragen zuzulassen. Das Fixed Mindset ist das genaue Gegenteil davon: Es beschreibt eine Haltung des „Ich weiß, wie es geht“, die den Selbstwert bedroht, wenn sich Ansichten und Umstände ändern sollen.

In einer Welt voller Ambiguität bringt ein Growth Mindset Führungskräfte weiter, denn ihre Rolle besteht immer weniger im Wissen und Kontrollieren, sondern immer mehr darin zu führen, ohne die Antworten zu kennen. Dafür braucht es die Fähigkeit, sich auf neue Sichtweisen einzulassen, eigene Annahmen zu hinterfragen und Veränderungen nicht als Bedrohung zu begreifen.

Entscheiden unter Unsicherheit

Genau dieses Fehlen von Antworten und die eigene Unsicherheit ist aber oft eine Herausforderung: klassische Entweder-oder-Muster greifen nicht mehr. Eine ambiguitätstolerante Haltung erlaubt es, Widersprüche als produktive Spannungsfelder zu betrachten. Klaus Eidenschink geht so weit zu sagen, dass eine Führungskraft ihrer Rolle „nur dann gerecht wird, wenn bei allem, was sie denkt und tut, immer auch ein leiser Restzweifel mitschwingen darf“. Denn erst dieser Restzweifel erlaubt es, flexibel für andere Varianten und Wege zu bleiben.

Ein weiterer herausfordernder Aspekt besteht darin, nicht starr eine einseitige Problemlösung zu verfolgen. Jede Entscheidung oszilliert in vielerlei Hinsicht zwischen zwei Dimensionen: Innovationskraft und Prozess-Stabilität, Effizienz und Lernbereitschaft, Menschenorientierung und Ergebnisverantwortung… Vielen Personen fällt es schwer, beiden Dimensionen denselben Stellenwert einzuräumen, weil die meisten von uns eine gewisse Grundorientierung mitbringen – beispielsweise neigen manche eher dazu, Beziehungen möglichst harmonisch zu führen, anderen ist die Lösung der Sachfrage viel wichtiger. Aber verschiedene Dimensionen schließen sich nicht aus – sie müssen vielmehr gleichzeitig mitgedacht werden. Situationen sind meist so komplex, dass wir widersprüchliche Qualitäten für unser Denken und Handeln benötigen – genauso, wie ein Auto nicht nur vorwärts, sondern auch rückwärts fahren können muss oder unsere Muskulatur nur dann komplette Beweglichkeit ermöglicht, wenn Strecker und Beuger beide mitspielen. Führungskräfte brauchen in ungewissen Situationen eine Sowohl-als-auch-Haltung, um Spannungen ausbalancieren zu können.

Konkrete Tipps für mehr Ambiguitätstoleranz

Wie lässt sich jetzt eine solche Haltung konkret entwickeln? Am besten unter professioneller Anleitung, beispielsweise in einem meiner Resilienz-Workshops. Darin setze ich viel auf Selbstreflexion der teilnehmenden Führungskräfte. Ambiguitätstoleranz beginnt mit der ehrlichen Auseinandersetzung mit der eigenen Reaktion auf Unklarheit. Wo bringt Mehrdeutigkeit jemanden aus dem Gleichgewicht? Wann empfindet man den Impuls, rasch eine Entscheidung zu treffen – nicht weil sie reif ist, sondern weil die Ungewissheit schwer auszuhalten ist? Wer diese Muster bei sich erkennt, kann beginnen, sie zu hinterfragen – und genau dort innere Beweglichkeit aufzubauen, wo bisher Automatismen greifen.

Ein zweiter wichtiger Aspekt ist die Kommunikation. Ambiguität entsteht oft im Zusammenspiel unterschiedlicher Perspektiven – und genau dort kann sie auch produktiv gemacht werden. Wer den Austausch mit anderen aktiv sucht, wer wirklich zuhören kann, statt nur Argumente abzuwarten, trainiert die Fähigkeit, widersprüchliche Sichtweisen nebeneinander stehen zu lassen. Das bedeutet nicht, Entscheidungen endlos aufzuschieben. Aber es bedeutet, sich ein differenziertes Bild zu erlauben, bevor man sich positioniert – und dabei bewusst Ambivalenz auszuhalten.

Auch das Zulassen von temporärem Nicht-Wissen ist ein zentraler Baustein ambiguitätstoleranter Führung. In vielen Organisationen wird von Führungskräften erwartet, schnell, klar und entscheidungsfreudig zu sein. Doch in dynamischen, komplexen Kontexten kann das Bedürfnis nach sofortiger Klarheit kontraproduktiv wirken. Die Fähigkeit, zu sagen: „Ich weiß es (noch) nicht“ – und das nicht als Defizit, sondern als Ausdruck von Verantwortungsbewusstsein zu verstehen – schafft Raum für tragfähigere Entscheidungen. Nicht-Wissen kann so zur Ressource werden!

Vertrauen in Übergänge

Letztlich geht es ja darum, in der Unsicherheit Vertrauen in Übergänge zu entwickeln. Denn moderne Führung findet immer häufiger in Zwischenzuständen statt: wenn neue Strategien noch auf ihre Wirkung warten, wenn Umstrukturierungen angestoßen, aber noch nicht abgeschlossen sind, wenn Rollen sich verschieben oder neue Teamkonstellationen entstehen. In solchen Zwischenzuständen bleibt der Anspruch an Führung bestehen, doch Entscheidungen können oft erst im Tun entstehen.

Diese Übergänge sind mehr als bloße Durchgangsstadien – sie sind produktive Spannungsräume. Wer hier präsent bleibt, ohne vorschnell Eindeutigkeit zu suggerieren, ermöglicht anderen, sich ebenfalls sicher in der Unsicherheit zu bewegen. Das bedeutet nicht, alle Antworten zu haben. Im Gegenteil: Ambiguitätstoleranz zeigt sich gerade darin, mit dem Nicht-Wissen offen umzugehen und trotzdem Orientierung zu geben. Diese Form von Führung stärkt das Vertrauen – nicht nur in die Führungskraft, sondern auch in die eigene Handlungsfähigkeit im Team.

In meinen Workshops zur resilienten Führung setzen wir uns intensiv mit diesen Übergängen auseinander. Was macht sie so herausfordernd? Was brauchen Führungskräfte, um in solchen Situationen handlungsfähig zu bleiben? Wie lassen sich Spannungsfelder gestalten, ohne sie zu verharmlosen? Die Teilnehmenden erleben, wie sie ihre eigene Ambiguitätstoleranz stärken können – durch Reflexion, Erfahrungsaustausch und gezielte Impulse aus der Resilienzforschung.

Wenn Sie auf der Suche nach einem Workshopangebot sind, das Ihre Führungskräfte in ihrer Haltung stärkt und sie auf komplexe Übergangsphasen vorbereitet oder in unsicheren Zeiten begleitet, sprechen Sie mich gern an. In einem unverbindlichen Beratungsgespräch klären wir gemeinsam, wie ein passgenaues Format für Ihre Organisation aussehen kann.