Zeit etwas zu ändern

Ein Artikel über Mut, Loslassen und Zuversicht als Anstoß für Führungskräfte, die eine Übergangs-/Veränderungsphase gestalten wollen.

„Wie man frisch beobachtet, um neu wahrzugeben“ ist der Titel eines kürzlich erschienenen Buches von Rolf Arnold, das ich mit großem Interesse gelesen habe. Und ich fragte mich, wie verbreitet das Konzept der „Wahr-Gebung“, das so exponiert im Buchtitel verwendet wird, wohl mittlerweile ist. Noch immer wird in meinen Texten nämlich „Wahrgebung“ von der Autokorrektur wahlweise zu „Wahrnehmung“ oder „Vergebung“ korrigiert…

Wahrgebung

Dabei ist die Idee der Wahrgebung ganz zentral für das Verständnis dafür, wie Menschen sich verändern können oder warum es ihnen oft so schwerfällt, sich zu verändern. Meist nehmen wir an, dass das, was wir sehen, hören und erleben, die „Wirklichkeit“ ist. In dem Moment jedoch, in dem wir verstehen, dass wir alle uns eine eigene Wirklichkeit konstruieren, öffnen sich viel mehr Möglichkeiten, eine Veränderung herbeizuführen.

Stellen Sie sich dafür eine Führungskraft vor, die von einem überkritischen, ständig nörgelnden Chef genervt ist. Die Wirklichkeit der Führungskraft ist: Der Chef nimmt überhaupt nicht wahr, was ich leiste und gibt mir immer die unangenehmen Jobs on top, wo Konflikte zu klären sind z.B. mit dem Betriebsrat.

Was würde passieren, wenn die Führungskraft die Wirklichkeitsalternative erwägen könnte, dass es sich bei den Chef um eine Person handelt, die die Dinge wirklich verändern will und vielleicht aus Erfahrung sehr gewissenhaft vorgeht? Es würden sich neue Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung eröffnen.

Prof. Dr. Paul Watzlawick, einer der bedeutendsten Vertreter des Konstuktivismus, spricht da von einer Wirklichkeit 1. und 2. Ordnung. Die Wirklichkeit 1. Ordnung ist das, was wir über unsere Sinnesorgane wahrnehmen: Ich höre ein Geräusch, und es ist eine Stimme. Die Wirklichkeit 2. Ordnung ist unsere Zuschreibung von Bedeutung an diese Sinneswahrnehmung: Dass die Stimme Worte produziert, die wir verstehen können und dass wir eine Handlungsaufforderung daraus ableiten oder den Tonfall als „nörgeln“ interpretieren.

Unser Blick auf das, was wir wahrnehmen, ist immer verzerrt. Er ist beeinflusst von den Erfahrungen, die wir gemacht haben, von der Kultur, in der wir leben, vom Kontext der Situation. Wir sollten uns immer im Klaren sein, dass ein anderer Blick auch zu ganz anderen Ergebnissen kommen könnte.  Wir wählen eine bestimmte Lesart für das, was passiert. Nach einem Zitat von Wittgenstein:

„Das Verführerische der kausalen Betrachtungsweise ist, dass sie einen dazu führt, zu sagen: „Natürlich – so musste es geschehen.“ Während man denken sollte: so und auf viele andere Weise, kann es geschehen sein.“ (zitiert nach Arnold, s.u.).

Unser Erleben wird also ständig neu erzeugt, wir konstruieren unsere Realität ständig neu. Der größte Teil der Zuschreibung verläuft dabei unbewusst. Und sie ist immer beeinflusst davon, worauf wir unsere Aufmerksamkeit fokussieren: Allein schon, welchem Sinn wir die meiste Aufmerksamkeit widmen (visuell-sehen, auditiv-hören, kinästhetisch-spüren, olfaktorisch-riechen, gustatorisch-schmecken), ändert unsere Wahrnehmung. Das eigene Erleben ist dabei aber nicht nur sozusagen ein „Spiegel“ oder eine Fotografie dessen, was passiert, sondern wir sind in ständigen Rückkopplungsprozessen mit anderen und mit unserer Umwelt. Wir reagieren auf Reize aus unserer Umwelt, die sich wiederum durch unser Verhalten ändern. Deswegen spricht Gunther Schmidt von „Wahrgebung“: Nichts ist, alles wird individuell konstruiert. Oder wie er selbst, ein Künstler des Wortspiels, es ausdrückt: Wir erzeugen zwar nicht unser Leben, aber unser Er-Leben.

Was das Konzept der Wirklichkeit 2. Ordnung und der Wahrgebung auch bedeutet, ist: Je nachdem, worauf wir unseren Fokus richten, erleben wir unsere Wirklichkeit anders. Und darin liegt die Möglichkeit, unsere Situation zu verändern – indem wir unseren Fokus ändern.

Beurteilen

In eine Veränderung können wir erst dann kommen, wenn es gelingt uns klarzumachen, dass wir uns in einer Wirklichkeitskonstruktion bewegen. Diese Erkenntnis eröffnet ganz neue Perspektiven, denn sie gibt uns die Möglichkeit, Situationen und das Verhalten anderer Menschen neu zu interpretieren und neue Sichtweisen einzunehmen. Auch die Hirnforschung liefert Evidenz dafür, dass schon allein der Gedanke, dass „das, was mir so scheint, nicht so ist“, Perspektivenvielfalt eröffnet. Es verändert sich etwas dadurch, dass Möglichkeiten in den Blick kommen, die vorher nicht beachtet wurden.

Aber: Erkennen, beobachten und beurteilen sind zwar verschiedene Schritte, laufen jedoch so blitzschnell ab, dass wir sie meist gar nicht trennen können. Die meisten unserer Reaktionsmuster sind unwillkürlich. Wir müssen uns selbst auf die Schliche kommen, warum wir Situationen erleben, wie wir sie erleben und welche Beurteilung wir unbewusst vornehmen. Denn Menschen erleben dieselbe Situation äußerst unterschiedlich, selbst dann, wenn die Situation an sich gleich wahrgenommen wird. Die Beurteilung als „bedrohlich“ triggert beispielsweise bei jedem/jeder unterschiedliche Denk -und Erlebnismuster: Eine wahrgenommene Bedrohung aktiviert bei manchen den Fluchtreflex, bei anderen den Kampfmodus und bei wieder anderen einen Totstellreflex. Solche Verhaltensmuster werden schon in der Kindheit programmiert und die emotional-kognitiven Erinnerungen beeinflussen die Realitätskonstruktion.

Es ist bereits ein großer Schritt zu erkennen, dass man in einer Situation beurteilt hat. Ein noch größerer, wenn es gelingt, zurückzutreten und das eigene Urteil neu zu prüfen. In diesem Moment können wir versuchen, neue Muster zu erkennen, die wir bisher übersehen haben – und das öffnet uns die Möglichkeit, die bisherigen Muster zu verändern oder zu durchbrechen. Dabei sollten wir aber immer auch unser aktuelles Muster, das unser „Problem“ darstellt, würdigen und nicht verdammen. Denn Probleme sind Lösungen für Vergangenes: Jedes Verhalten wurde entwickelt, weil es in seinem Moment einen Sinn machte – und wenn wir es jetzt verändern wollen, dann müssen wir diese vergangene Lösung würdigen und uns im Klaren sein, dass wir auch etwas aufgeben müssen, was vorteilhaft für uns ist. Denn Nicht-Verändern hat immer Vorteile, und Veränderung hat immer auch Nachteile. Wichtig ist dabei, dass die Veränderung sich lohnen sollte.

Die Wirklichkeit neu konstruieren

Wie bereits geschrieben: Überhaupt zu erkennen, dass wir uns eine Wirklichkeit konstruieren, dass wir immer urteilen und nicht nur wahrnehmen, ist der erste Schritt zur Veränderung. Und es ist kein einfacher Schritt. Vom Wissen zum Umsetzen ist es aber immer ein weiter Weg, und deswegen möchte ich Ihnen zum Abschluss noch einige praktische Übungen skizzieren, wie Sie eine Veränderung Ihrer Wirklichkeit anstoßen können.

Zum Beispiel Submodalitätenarbeit

Ausgehend von der Annahme, dass wir unsere Wirklichkeit 1. Ordnung über die Sinne wahrnehmen, können Sie diese Wahrnehmungen nutzen, um Ihre Wirklichkeit 2. Ordnung zu verändern. Die Submodalitäten-Arbeit hilft Ihnen dabei, aus einer negativen in eine positive Gefühlslage zu kommen. Dafür analysieren Sie in einem ersten Schritt die gedankliche IST-Situation anhand ihrer Submodalitäten (Visuell: z.B. farbig oder schwarz/weiß, hell oder dunkel; auditiv: z.B. laut oder leise, aus welcher Richtung kommen die Töne; etc.).

In einem zweiten Schritt experimentieren Sie mit den Submodalitäten. Durch eine gedankliche Veränderung der einzelnen Aspekte können Sie eine angenehme Situation so „einstellen“, sodass sie intensiver wird. Im Anschluss nutzen Sie die für Sie entscheidenden Aspekte, um Ihre unangenehme Situation angenehmer, positiver „einzustellen“.

In einem dritten Schritt kreieren Sie ein neues Bild oder einen neuen Film Ihrer früher unangenehmen Situation mit den für Sie angenehmen Submodalitäten und verankern dieses.

Zum Beispiel Arbeit an den Zeitebenen

Eine Fokusveränderung kann nicht nur zwischen verschiedenen Sinnen erfolgen, sondern auch zwischen den Zeitebenen der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft. Wer etwas an der eigenen Situation verändern möchte, der stellt oft diese Frage: „Was genau ist es, das sich ändern soll?“. Mit dieser Frage lenken Sie den Fokus auf Ihre Gegenwart und die Dinge, die gerade nicht so laufen, wie Sie es sich wünschen. Deswegen: Formulieren Sie die Frage so, dass Sie den Fokus der problembehafteten Handlung in die Vergangenheit legen, nämlich: „Was lief bisher so, das sich ändern soll?“. Sie werden sehen: Durch diesen kleinen Zusatz „bisher“ öffnet sich sofort mehr Möglichkeitsraum für das, was sich in Zukunft anders verhalten soll.

Zum Beispiel vom Ende her denken

Meist ist Ihnen sehr klar, welche Wirklichkeit, welchen Zustand Sie verändern wollen, weil Sie sich damit nicht wohlfühlen. Oft ist aber überraschend unklar, wie eigentlich der gewünschte Zustand aussehen soll. Formulieren Sie den Zielzustand ganz klar. Ein Zauberwort dafür ist das kleine Wort „sondern…“. Die Führungskraft aus meinem Beispiel am Anfang dieses Textes wünscht sich, dass ihr Chef sie nicht mehr nerven möge. Sondern, was möge er stattdessen tun…? Genauso hilfreich ist das „sondern“ auch im Veränderungsprozess, wenn dieselbe Führungskraft beispielsweise feststellt, dass der Chef letzte Woche weniger genörgelt hat. Er hat also weniger genörgelt, sondern was getan…?

Sicherlich können Sie sich vorstellen: Diese Interventionen sind im Grunde simpel. Wenn Sie sich aber auf das konzentrieren können, was Sie für sich klären wollen, und ihr Coach Ihnen diese und andere richtige Fragen stellt – dann sind sie um ein Vielfaches wirkungsvoller.

Zum Weiterlesen:
  • Arnold, R. (2023). Wie man frisch beobachtet, um neu wahrzugeben. 29 Regeln der Achtsamkeit. Heidelberg: Carl Auer.
  • Mücke, K. (2003). Probleme sind Lösungen. Potsdam: Ökosysteme Verlag.
  • Prior, M. (2006). MiniMax-Inteventionen. 15 minimale Interventionen mit maximaler Wirkung. Heidelberg: Carl Auer
  • Rolf Arnold zu Gast im Podcast „Sounds of Science“, online verfügbar (abgerufen am 18.03.2024): https://soundcloud.com/search?q=rolf%20arnold
  • Interviewausschnitt mit Paul Watzlawick: Wirklichkeit und Wahrheit. Online verfügbar (abgerufen am 18.03.2024): https://youtu.be/LEmZ2GOxzo8?feature=shared

Dies ist der Beitrag 4 von 10 rund um Übergänge, Perspektivwechsel und Coaching. Im nächsten Beitrag geht es um die Grundsätze seriösen Coachings und welche Ergebnisse Sie von einem Coaching-Prozess erwarten können.